Einführung in den Plattformismus
Gliederung
1.Übersicht – Anarchokommunismus
2. Einheit in Grundsätzen der Theorie, der Strategie und der Praxis
3. Kollektive Verantwortung
4. Föderalismus
5. Verantwortungsbewusstsein / Disziplin
6. Formelle Organisierung
7. Geschichte
8. Especifismo – Übersicht
9. Ergänzungen durch den Especifismo
10. Geschichte des Especifismo
1.Übersicht – Anarchokommunismus
Abschaffung der Klassengesellschaft und Errichtung einer sozialistischen Wirtschaft
Abschaffung des Staates und Errichtung einer auf Räten basierenden Entscheidungsstruktur → Räte werden von den Arbeiter:innen eines Betriebs oder Bewohner:innen einer Region gewählt, um ihre Interessen (mit einer dauerhaft möglichen Rücknahme des Vertrauens in ihre Repräsentant:innen) vertreten zu sehen
Freie und gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und der kreativen und (re-)produktiven Aufgaben → „Alle nach ihren Fähigkeiten, allen nach ihren Bedürfnissen.“
Föderalismus → Eigenständige Dörfer / Viertel / Städte / Regionen schließen sich mit Räten in immer höheren Ebenen zusammen, um bei erhaltener Selbstbestimmung immer komplexere Entscheidungen zu treffen Einheit in den Grundsätzen des Inhalts, der Strategie und der Praxis
2. Einheit in Grundsätzen der Theorie, der Strategie und der Praxis
Der Plattformismus geht davon aus, dass nur mit einer gemeinsamen theoretischen Grundlage aller beteiligten Personen und Zusammenschlüsse sich inhaltliche Beliebigkeit/Profillosigkeit sowie organisationsinterne Widersprüche vermeiden lassen. Die Ideologie ist eine Kraft, die die Aktivität einzelner Personen und einzelner Organisationen auf einen bestimmt Weg hin zu einem bestimmten Ziel richtet. Sie muss selbstverständlich einheitlich für alle Personen und Organisationen sein, die sich an der gemeinsamen Union beteiligen. Die Aktivität der Allgemeinen Anarchistischen Union muss sowohl im Allgemeinen als auch im Detail den von ihr bekundeten ideologischen Prinzipien genau entsprechen. Die taktischen Methoden, die von einzelnen Mitgliedern oder Gruppen der Union angewandt werden, müssen einheitlich und genau abgestimmt sein, sowohl miteinander als auch mit der allgemeinen Ideologie und Taktik der Union. Eine einheitliche taktische Linie der Bewegung ist von entscheidender Bedeutung für das Leben der Organisation und der ganzen Bewegung: Sie rettet die Bewegung aus dem saugenden Sumpf der zahlreichen, gegenseitig zerstörerischen Taktiken und versammelt alle Kräfte auf einer bestimmten Linie, die zu einem bestimmten Ziel führt.
3. Kollektive Verantwortung
Der Plattformismus geht davon aus das, dass Ziel die befreite Gesellschaft aufzubauen, nur als kollektiver Prozess umsetzbar ist. Individuelle Alleingänge widersprechen diesem Prinzip. Mitglieder einer plattformistischen Organisation tragen eine gemeinsame Verantwortung für alle Aktivitäten. Dies bedeutet, dass jedes Mitglied hinter allen Tätigkeiten der Organisation steht. Und dass alle Mitglieder der Organisation Verantwortung für das Gelingen und Umsetzen der Aufgaben jedes einzelnen Mitglieds übernehmen.
4. Föderalismus
Zentralistische Organisationsformen lehnt der Plattformismus ab, da sie strukturelle Hierarchien, Unterwerfung sowie Fremdbestimmung produzieren, indem Entscheidungen von wenigen getroffen werden, alle anderen aber davon ohne Mitspracherecht betroffen sind. Anstelle von Zentralismus soll die anarchistische Organisation nach den Prinzipien des (anarchistischen) Föderalismus aufgebaut sein: Im Zusammenschluss kleiner, dezentraler Einheiten, welche ihr Handeln auf das Erreichen gemeinsamer Ziele ausrichten. Grundlage der gemeinsamen Zusammenarbeit der Organisation ist die freiwillige Vereinbarung. Mittels delegierter Personen der kleinen Einheiten, die mit einem imperativen Mandat ausgestattet sind, werden Entscheidungen auf übergeordneten Ebenen getroffen. So hat jedes Mitglied der Organisation, die Möglichkeit sich an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Durch die Verbindung der Idee von Unabhängigkeit und Souveränität des Individuums mit der freiwilligen Verpflichtung auf gemeinsam geteilte Ziele hinzuarbeiten, erwächst eine Balance zwischen Autonomie und Einheitlichkeit.
5. Verantwortungsbewusstsein / Disziplin
Im Plattformismus geht es nicht um die Art von Disziplin wie beim Militär, als ein von oben aufgezwungenes Konstrukt, sondern als ein von unten selbst gewolltes Verfahren aller beteiligten Mitglieder. Es geht also um einen Prozess, der aus dem Inneren der Aktiven kommt, die sich dann bewusst für eine Organisierung entscheiden, die Verantwortungsbewusstsein als Grundlage hat. Es handelt sich um eine Einstellung zu unserem Kampf, in der es den Aktiven nicht als lästig erscheint, gewisse Aufgaben erledigen zu müssen, sondern sie die Notwendigkeit dazu erkennen und deshalb auch eine Dynamik dafür entwickeln.
6. Formelle Organisierung
Plattformistische Organisationen haben eine klare formelle Struktur. In jeder Organisation gibt es wichtige, sich oft wiederholende Aufgaben, wie das Verwalten der Finanzen, einer Webseite oder das Betreuen einer E‐Mail‐ Adresse. Für diese wiederkehrenden Aufgaben gibt es in plattformistischen Organisationen klar definierte Aufgabenbereiche und feste Zuständigkeiten. Gleichzeitig sollen alle teilnehmenden an der Organisierung anstehende Aufgaben als kollektiven Prozess der gesamten Gruppe/Organisation verstehen. So kann nicht nur verhindert werden, dass in manchen Punkten ein Spezialistentum zu einer Hierarchisierung oder Abhängigkeit der Organisation von einzelnen Aktivist:innen führt; oder dass sich einzelne überarbeiten. Es entspricht auch am ehesten der anarchistischen Vorstellung, sich selbst zu befähigen und die Selbstorganisation zu erhöhen. Es soll nicht verschleiert werden, dass es auch in anarchistischen Organisationen so etwas wie „Kader“ gibt. Anstatt einer oft still geduldeten „Autorität“ von Kadern sollen diese Aktiven bewusst benannt werden. Wer beispielsweise gut darin ist, Reden zu halten, Leute mitzureißen und Inhalte charismatisch zu vermitteln, sollte auch genau eine solche Funktion, die seinen Fähigkeiten entspricht, für alle transparent ausführen. Das bedeutet nicht, dass andere sich nicht auch schulen sollten und sich ausprobieren können. Aber es bedeutet, die Fähigkeiten der jeweiligen Aktiven anzuerkennen und einen offensiven Umgang mit informellen Hierarchien in den eigenen Reihen zu führen.
7. Geschichte
Als ideeller wenn auch nicht faktischer Vorläufer des Plattformismus, der große Ähnlichkeiten aufweist, ist der revolutionäre Katechismus nach Michail Alexandrowitsch Bakunin zu nennen, die einen großen Einfluss in der ersten Internationale hatte.
Begriff geht auf den Titel eines Texts der “Gruppe russischer Anarchisten im Ausland” zurück. Die „Organisationsplattform der Allgemeinen Anarchistischen Union (Entwurf)” wurde 1926 veröffentlicht.
Die Gruppe setzte sich aus Anarchist*innen zusammen, die sich an den revolutionären Kämpfen in Russland und der Ukraine beteiligt hatten, welche sich nach dem Sturz der Zarenherrschaft im Jahr 1917 entfalteten. Unter anderem Nestor Machno, Gregori Maximoff, Ida Mett, Pjotr Arschinoff. Sie waren vor der politischen Verfolgung der Bolschewiki, teilweise über Umwege, nach Frankreich geflüchtet. Dem Anarchismus war es nicht gelungen, eine einheitliche, schlagkräftige Linie des eigenes Agierens zu finden und seine freiheitlichen Ideale in den revolutionären Kämpfen gegen den Bolschewismus zu verteidigen. So konnte er erst von den Bolschewiki verraten, ausgebootet und schließlich (nahezu) zerschlagen werden.
Insbesondere die organisatorischen Prinzipien waren zu dieser Zeit einfach neu und stellten eine klare Abgrenzung vom Synthetischen Anarchismus dar. Der Text wurde in der anarchistischen Bewegung damals sehr breit diskutiert und erst einmal mehrheitlich abgelehnt. (Kritik von Berkman, Malatesta, Faure) Dabei sorgte eine fehlerhafte Übersetzung des Dokuments auf französisch durch Volin für viele Missverständnisse, von denen viele im Verlauf ausgeräumt werden konnten.
Speziell ab den 1980 Jahren entwickelten sich organisatorische Ansätze des Plattformismus, die teils bis heute Bestand haben, wie Zabalaza Anarchist Communist Federation in Südafrika, Alternative libertaire – jetzt Union Communist Libertaire (Frankreich) oder Federazione dei Comunisti Anarchici (Italien).
8. Especifismo – Übersicht
1.Die Notwendigkeit einer spezifisch anarchistischen Organisation, die auf einer Einheit von Ideen und Praxis aufgebaut ist.
2. Den Gebrauch der spezifisch anarchistischen Organisation zur Entwicklung von Theorien und strategischer politischer und organisatorischer Arbeit.
3. Aktive Einmischung in sowie die Bildung von autonomen und breiten sozialen Bewegungen, was als Prozess der “gesellschaftlichen Einfügung” bezeichnet wird.
9. Ergänzungen durch den Especifismo
Der Punkt, der in der Praxis des Especifismo zentral ist, ist die Idee der “gesellschaftlichen Einfügung”. Sie wurzelt im Glauben, dass die Unterdrückten der revolutionärste Teil der Gesellschaft sind und dass der Samen der zukünftigen revolutionären Transformation der Gesellschaft schon in diesen Klassen und sozialen Gruppierungen liegt. Gesellschaftliche Einfügung meint anarchistische Einmischung in die alltäglichen Kämpfe der Unterdrückten und der Arbeiter:innenklasse. Sie bedeutet nicht die Arbeit in Ein-Themen-Interessenkampagnen, in der die üblichen politischen Aktivistinnen und Aktivisten tätig sind, sondern innerhalb von Bewegungen jener Menschen, die um eine Verbesserung ihrer Situation kämpfen, und nicht immer nur aus materiellen Nöten zusammenkommen, sondern auch aus sozialen und geschichtlich verwurzelten Gründen, um gegen die Attacken des Staates und des Kapitalismus Widerstand zu leisten.
Die especifistische Konzeption sieht nicht vor, dass seine Theorie durch eine Führerschaft, eine „Massenlinie“ oder durch Intellektuelle den Massenbewegungen aufgezwungen wird. Anarchistische Aktivist:innen sollten nicht versuchen, soziale Bewegungen zu anarchistischen Proklamationen zu bewegen, sondern ihren genuin anarchistischen Charakter (Selbstorganisation, Kampf für die eigenen Interessen) bewahren.
Eine zusätzliche Rolle der anarchistischen Aktivistinnen innerhalb der sozialen Bewegungen besteht darin, so glauben die Especifistas, sich an die vielfältigen politischen Strömungen, die innerhalb der Bewegungen existieren werden, zu wenden und aktiv gegen opportunistische Elemente wie Avantgardismus und Wahlpolitik vorzugehen.
Ein wichtiger Punkt in der especifistischen Praxis ist die Rolle der anarchistischen Organisation, die auf der Basis einer gemeinsamen Politik beruht, als ein Raum für die Erarbeitung einer gemeinsamen Strategie und die Reflexion über die Organisierungsarbeit der Gruppe. Gestützt durch kollektive Verantwortung gegenüber den Plänen und der Arbeit der Organisation wird ein Vertrauen zwischen den Mitgliedern und Gruppen aufgebaut, welches eine tiefgründige, auf hohem Niveau geführte Diskussion der Aktionen zulässt. Das erlaubt der Organisation, kollektive Analysen durchzuführen, kurzfristige und langfristige Ziele zu entwickeln und kontinuierlich ihre Arbeit aufgrund von Erfahrungen und Umständen zu reflektieren und zu redigieren.
Aufgrund dieser Praktiken und aufgrund der Basis ihrer ideologischen Prinzipien, sollten revolutionäre Organisationen versuchen, ein Programm zu entwickeln, das ihre kurz- und mittelfristigen Ziele definiert und das auf ihre langfristigen Ziele hinarbeitet.
10. Geschichte des Especifismo
Die erste Organisation, die das Konzept des Especifismo entwickelt hat – damals mehr eine Praxis als eine ausgebildete Ideologie – war die Federación Anarquista Uruguaya (FAU), die 1956 von Anarchistinnen und Anarchisten gegründet wurde, welche die Idee einer spezifisch anarchistischen Organisation umsetzen wollten. Die Diktatur in Uruguay überlebt, begann die FAU Mitte der 1980er-Jahre, Kontakte mit anderen südamerikanischen anarchistischen Revolutionärinnen und Revolutionären aufzunehmen und diese zu beeinflussen. Die Arbeit der FAU förderte die Gründung der Federação Anarquista Gaúcha (FAG), der Federação Anarquista Cabocla (FACA) und der Federação Anarquista do Rio de Janeiro (FARJ) in den jeweiligen Regionen Brasiliens sowie der argentinischen Organisation Auca (Rebell).